Ratzinger entschuldigt sich und streitet Vertuschung ab

Auf diese Stellungnahme haben viele Katholiken in Deutschland gewartet: Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., äußert sich zu Vorwürfen aus dem Münchner Missbrauchsgutachten. Enttäuschung oder „Befreiungsschlag“?

Wochenlang mussten die Katholiken in Deutschland auf eine Stellungnahme ihres bayerischen Papstes Benedikt XVI. zu den Vorwürfen aus dem Münchner Missbrauchsgutachten warten. Jetzt ist sie da: Der emeritierte Papst hat Opfer sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche zwar ganz generell – wie auch schon in der Vergangenheit – um Verzeihung gebeten. Konkrete Vertuschungsvorwürfe gegen sich aber wies er entschieden zurück.

„Ich habe in der katholischen Kirche große Verantwortung getragen. Umso größer ist mein Schmerz über die Vergehen und Fehler, die in meinen Amtszeiten und an den betreffenden Orten geschehen sind“, schrieb der 94-Jährige in einer Stellungnahme, die der Vatikan am Dienstag veröffentlichte und die sein Privatsekretär Georg Gänswein in einem Youtube-Video vorlas. Er wolle seine „tiefe Scham“, seinen „großen Schmerz“ und seine „aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern sexuellen Missbrauchs zum Ausdruck bringen“.

Die Reaktionen darauf reichen von Wut und enttäuschter Kritik bis hin zu einem „Befreiungsschlag“. Anders als die zuvor schon von Gänswein veröffentlichte knappe Stellungnahme zum Münchner Gutachten trage diese nun die Handschrift des emeritierten Papstes, sagte Pater Hans Zollner, Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen. „Das ist jetzt er.“

Der Brief spiegele Benedikts Umgang mit dem Thema Missbrauch wider. Denn er bedanke sich zunächst bei seinen Freunden – und erst dann seien die Betroffenen an der Reihe. Er stelle seine Erklärung in einen großen theologischen Rahmen, ohne auf Details einzugehen. Die Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ zeigte sich regelrecht wütend: „Für Betroffene sind diese Art von „Entschuldigungen“ wirklich schwer erträglich“, hieß es in einer Mitteilung. „“Schmerz und Scham“ – Betroffene können es nicht mehr hören.“

Benedikt, der frühere Kardinal Joseph Ratzinger, steht seit Wochen heftig in der Kritik, weil ihm ein Gutachten, das von mindestens 497 Betroffenen und 235 mutmaßlichen Täter ausgeht, Fehlverhalten als Erzbischof vorwirft. Mehrere Städte wie Regensburg, wo Ratzinger einst Dogmatik lehrte, diskutieren inzwischen darüber, ihm die Ehrenbürgerwürde abzuerkennen. Denn die Gutachter der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) gehen davon aus, dass Ratzinger in seiner Zeit als Münchner Erzbischof Priester, die Kinder missbraucht hatten, wieder in der Seelsorge einsetzte.

Diese Vorwürfe werden in einem ebenfalls am Dienstag veröffentlichten „Faktencheck“ von Ratzingers Anwälten und Beratern kategorisch abgestritten. „Das Gutachten enthält keinen Beweis für einen Vorwurf des Fehlverhaltens oder der Mithilfe bei einer Vertuschung“, heißt es darin. „Als Erzbischof war Kardinal Ratzinger nicht an einer Vertuschung von Missbrauchstaten beteiligt.“

In einer bemerkenswert knappen Stellungnahme begrüßte der Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, zwar, dass sein „Vor-Vorgänger“ sich äußere – stellte sich aber gleichzeitig hinter die von ihm beauftragten Gutachter und betonte, dass er die Studie „sehr ernst“ nehme.

Der Kirchenrechtler Thomas Schüller kritisierte Benedikts Erklärung als unzureichend. „Er entschuldigt sich, spricht seine Scham aus – das ist gut und wichtig“, sagte Schüller der Deutschen Presse-Agentur. „Was fehlt aber? Dass er sagt: „Ich entschuldige mich und ich übernehme Verantwortung für die schlimmen Fehler, die in Sachen Umgang mit sexuellem Missbrauch in meiner Zeit als Erzbischof von München-Freising gemacht wurden.““

Benedikt spreche zwar von Fehlern und Vergehen, aber er rechne sie sich nicht selbst an. „So als hätten anonym bleibende Mächte und Gewalten im Erzbistum München-Freising diese Fehler gemacht, nicht aber er“, kritisierte Schüller, der an der Universität Münster das Institut für Kanonisches Recht leitet.

„So übernimmt er erneut nicht persönliche Verantwortung und vor allem er zieht keine persönlichen Konsequenzen, außer sich der barmherzigen Liebe Gottes anzuempfehlen. Das wird die Überlebenden sexualisierter Gewalt erneut traumatisieren, denn ihnen widerfährt keine Gerechtigkeit.“

Ganz anders sieht das der Theologe, Psychiater und Bestsellerautor Manfred Lütz („Irre! Wir behandeln die Falschen“). Er nannte die – aus seiner Sicht etwas spät abgegebene – Erklärung einen „Befreiungsschlag“: „Papst Benedikt übernimmt ohne Wenn und Aber die sozusagen politische Verantwortung für das, was in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising dort an Schrecklichem geschehen ist“, sagte Lütz der dpa. Man dürfe nun „gespannt sein, ob eine Öffentlichkeit, die gerade Prominente liebend gerne vernichtet, dem 94-jährigen Mann jetzt Absolution erteilt.“

Benedikt äußerte sich in seinem Brief auch zu Vorwürfen, er habe über seine Teilnahme an einer Sitzung gelogen, in der es um die Versetzung eines Priesters von Nordrhein-Westfalen nach Bayern ging. Dieser Priester soll später in zwei oberbayerischen Gemeinden wieder mehrere Kinder missbraucht haben. Die falsche Angabe, er sei nicht bei der fraglichen Sitzung gewesen, beruhe auf einem Missverständnis, so Benedikt. Das habe sich beim Verfassen der Stellungnahme zu dem Gutachten ergeben, bei dem „eine kleine Gruppe von Freunden“ ihm geholfen habe.

„Bei der Riesenarbeit jener Tage – der Erarbeitung der Stellungnahme – ist ein Versehen erfolgt, was die Frage meiner Teilnahme an der Ordinariatssitzung vom 15. Januar 1980 betrifft“. Der Fehler sei „nicht beabsichtigt“ gewesen – und „so hoffe ich, auch entschuldbar“, schreibt Benedikt. „Dass das Versehen ausgenutzt wurde, um an meiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln, ja, mich als Lügner darzustellen, hat mich tief getroffen.“

Damit spiele Benedikt eine Falschaussage zur Bagatelle herunter, kritisierte Schüller: „Es war und bleibt eine Unwahrheit, die er mit seiner Unterschrift zu verantworten hat.“

Ratzingers Anwälte beteuern dagegen weiterhin, dass er von früheren Missbrauchstaten des Priesters aus Essen nichts gewusst habe. Die Akten zeigten, „dass in der fraglichen Sitzung nicht thematisiert wurde, dass der Priester sexuellen Missbrauch begangen hat“, schreiben sie.

In seinem Brief bittet Ratzinger die Gläubigen, für ihn zu beten: „Immer mehr verstehe ich die Abscheu und die Angst, die Christus auf dem Ölberg überfielen, als er all das Schreckliche sah, das er nun von innen her überwinden sollte“, schreibt er. „Dass gleichzeitig die Jünger schlafen konnten, ist leider die Situation, die auch heute wieder von neuem besteht und in der auch ich mich angesprochen fühle.“ (dpa/lby)